Schon von weitem konnte Sarin das heitere Getuschel, leises Lachen und angeregte Sprechen hören und als sie in Lariels Windschatten um die letzte Ecke des Korridors bog, sah sie es auch. Die Feierlichkeiten hatten bereits begonnen. War sie zu spät? Offenbar nicht. Lariel hatte nichts in dieser Richtung erwähnt. Sie kam also genau zu jenem Zeitpunkt, den ihre Herrin sich auserkoren hatte, auch wenn es nicht direkt zum Einlass der Gäste gewesen sein konnte. Denn die gewaltigen Flügeltüren, welche eine ovale Form besaßen und aus blassviolettem Milchglas bestanden, waren zur beiden Seiten hin schon geöffnet worden. Flankiert wurden sie von Nachtelfenwächtern in ihren Prunkrüstungen. Sarin wusste, dass sie darunter den kostbaren Nachtelfenstoff trugen, den sie selbst schon mit eignenen Händen bearbeitet hatte. Er schützte vor dem Sonnenlicht der Oberfläche und man sollte meinen, hier unten im Palast hätten diese Nachtelfen nichts zu befürchten. Aber ihre Herrin Mentára Tronás ging immer auf Nummer sicher. Sie überließ nichts dem Zufall.
So konnte es kein Zufall sein, dass Lariel sie ausgerechnet jetzt zum Ball brachte, wo vor den Türen einige der Adligen sich für einen Plausch abseits des Tanzbodens und der Ränkespiele versammelt hatten. Hier fand man die meistens schon versprochenen und somit für das Spiel der Nachtelfen aus dem Rennen geworfenen Töchter und Söhne einzelner Adelshäuer an. Ihre Väter zeigten sich innerhalb des Saales, sprachen miteinander und schmiedeten Pläne für gemeinsame Handelsabkommen oder sonstige Fusionen, die durchaus auch Ehevermittlungen beinhalteten. Da waren die versprochenen Kinder bereits heraus. Dennoch mussten sie sich präsentieren, teil des Spiels sein und mit ihrer Anwesenheit zeigen, wie wunderbar ihre Eltern sie bereits unter die Haube gebracht hatten. Eine wahrlich langweilige Angelegenheit, sah man von der Möglichkeit ab, sich mit Gleichgesinnten vor den Flügeltüren der Halle zu treffen und über das Eheleben zu sprechen, während man sich mit feinen Eulenfederfächern Luft zufächelte oder aus einem schlanken Glas den edlen Wein genoss, den nachtelfische Diener überall nebst kleinen Häppchen auf Tabletts durch die Gegend trugen.
Noch bevor Sarin die Flügeltüren erreichte, verstummten erste Gespräche bereits. Schmucke, adrette Nachtelfen in Anzügen teils aus ihrer eigenen Schneiderei richteten sich auf und reckten die Köpfe, um einen Blick auf die Elfe hinter Lariel werfen zu können. Ihre begleitenden Damen verbargen Emotionen hinter den Fächern oder steckten sogleich tuschelnd die Köpfe zusammen, während ihre Blicke auf Sarin gerichtet waren. Es hatte den Anschein, als würde sie von Dutzenden von Nadelstichen durchbohrt. So viele Augen! Zum Glück war noch immer die sanfte Melodie aus dem Ballsaal zu hören, zu deren Klängen nachtelfische Tanzpaare das Bein schwangen, andernfalls hätte Sarin glauben können, die Zeit sei stehengeblieben.
"Da wären wir. Die Mondsteinhalle." Lariel blieb an der Tür stehen und wandte sich um. Er verneigte sich leicht, während er formell mit einer Hand einladend in die Halle hinein wies. Es war ihm in seiner Position nicht gestattet, den Saal zu betreten. Er würde in irgendeinem Bedientestenraum nahe des Eingangs darauf warten, für eine neue Aufgabe gerufen zu werden. Zuversichtlich lächelte er Sarin zu, während sich hinter ihr in einem distanzierten Halbkreis eine Traube der versprochenen Gäste aufbaute, um das weite Braut - das Ballkleid - zu bewundern.
"Nur Mut", forderte Lariel sie noch einmal auf. Die Halle würde sie nämlich allein betreten müssen.
Und was für eine Halle sich ihre Herrin da ausgesucht hatte! Ein gewaltiger, mit blassem Marmor gefliester Saal erstreckte sich vor ihr. Marmorsäulen reckten sich empor und stützten die wenigen tieferen Stellen des Deckengewölbes, das nach wie vor aus dem natürlichen Stein der unterirdischen Höhlen bestand. Hier und da spendete der sogenannte Leuchtende Purpurmantel, eine leuchtende Pilzart, sein mystisch blaues Licht. Vordergründig waren in die Decken und Wände der Halle jedoch Mondsteinlaternen eingefasst worden. Oval, wie übergroße Eier wölbten sie sich aus dem Gestein heraus, doch bestanden sie nur aus feinem Milchglas mit blassblauen oder violetten Farbzusätzen, damit das Fackellicht dahinter wie eine tanzende Seele im Inneren hindurch schien. Namensgebend jedoch war der gewaltige, dieses Mal echte Mondstein, der sich einem riesigen Deckenlicht gleich vom Zentrum des Gewölbes auf die Anwesenden herab senkte. Was immer ihn zum Leuchten brachte, konnte kein verborgenes Fackellicht im Inneren sein. Unter seiner Oberfläche schimmerte es ebenfalls blassblau und zartviolett und kleine Motten tanzten knapp unterhalb seiner Oberfläche. Deutlich tiefer, auf dem Parkett, drehten Tanzpaare ihre Kreise. Gewänder wirbelten mit jeder Drehung auf, bauschten Tüll und Seide und ließen sich von den Tanzpartnern in feinen Samtanzügen wie auf Wolken tragen. Passend zur Musik drehten sich alle im Rhythmus. Jedes Kleid wirkte wie eine Blume, die durch den Tanz selbst erblühte. Und an den vielen Säulen der Halle waren auch Blumen angebracht worden. Schwarze Rosen, um genau zu sein. Irgendeine Magie ließ sie selbst unterirdisch blühen, aber dass es Magie war, davon war auszugehen. Denn sie schimmerte und ließ winzige magische Funken über den Blüten tanzen, die tiefblauen Glühwürmchen gleich kam. Möglicherweise arbeiteten hier Schattenmagier mit nachtelfischen Absolventen der Energiemagie zusammen, die tapfer genug waren, sich an der Oberfläche in einem Kloster unterrichtet lassen zu haben. Genaueres ließ sich nicht sagen, aber dass der gesamte Anblick der Mondsteinhalle mindestens zu überwältigend war wie Sarins Brautkleid, das stand fest.
Nun hieß es, in all der Pracht die Stadtherrin zu finden. Das war nicht schwer, saß sie doch am Rande des Saalres auf einem schwarzen Samtsofa zwischen reich gedeckten Tischen und einem Tischbrunnen, der mit Wein gefüllt war. Ihr scharfes Profil zeichnete sich durch das nahe Licht eines wie eine riesige, weiße Eule geformten Kamins deutlich ab. Und in ihrem Beisein befanden sich mehrere Elfen, die eindeutig aus Mogeria stammen mussten. Sie besaßen nicht den perlmuttfarbenen Teint der Nachtelfen, sondern dunklere Haut und ein einschüchterndere Äußeres, selbst wenn sie keine Rüstungen trugen. Offenbar unterhielten sie sich gerade angeregt mit der Stadtherrin, aber allesamt befanden sich zu weit weg vom Eingang, als dass man hätte Details ausmachen können. Dazu hieß es, sich endgültig in die Höhle des Löwen zu wagen.